Die Umfahrung mit Durchschlag

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Sedimente waren die schlimmsten Gesteine für Mineure, da es eben keine feste Masse war. Durch aufschwemmen lagerte sich das von einem Fluss mitgeführte Gestein an dessen Boden ab. Dadurch bestehen Sedimente aus Schlamm und Geröll. Um die Sache noch unangenehmer zu machen ist die Ablagerung mit viel Wasser durchsetzt worden. Eine Masse, die sich, sobald es wieder Platz gibt, mit grosser Gewalt in Bewegung setzt.

Am Lötschberg konnte man diese schlicht nicht bewältigen, so dass man sich einen anderen Weg durch den Berg suchen musste. Zwar hätte man das Sediment mit Zement eindämmen können, aber es bestand ein extrem hohes Risiko, dass es erneut zu einem Einbruch kommen könnte. Damit nicht noch mehr von der Arbeit verloren ging, sollte so viel, wie nur möglich vom bisherigen Tunnel genutzt werden. Mit einer geraden Strecke durch den Berg war dies jedoch nicht mehr zu schaffen.

Auch wenn das Vertrauen etwas geschwunden war, man musste sich auf die Angaben der Geologen verlassen, dass man weiter östlich besseres Gestein vorfinden würden. Mittlerweile waren natürlich auch diese Leute deutlich vorsichtiger geworden und dank Sondierbohrungen konnte man sich sicher sein. Zumindest dort, wo man gebohrt hatte. Eine 100% Sicherheit gab es nie und wird es vermutlich auch nie geben, denn es gibt immer unbekannte Lücken.

Daher wurden die Arbeiten auf der Nordseite am 15. Februar 1909 und somit nach fast ein Jahr Stillstand, wieder aufgenommen. Während die Anpassungen im aufgegebenen Richtstollen vorgenommen wurden, berechneten die verantwortlichen Stellen den neuen Weg in Richtung des südlichen Vortriebes.

Keine leichte Aufgabe, denn die Zeit drängte. Schliesslich galt es immer noch einen Tunnel planmässig und Termingerecht zu bauen. Wobei gerade hier nach dem Vorfall ernsthafte Zeifel bestanden.

Die neue Umfahrung nahm ihren Anfang bei Kilometer 1.203. Mittels einer lang gezogenen Linkskurve mit einem Radius von 1 060 Meter wurde die aufgegebene Tunnelachse in Richtung Osten verlassen. Nach einem geraden Abschnitt von rund zwei Kilometer schwenkte die Achse mit einem vergleichbaren Radius wieder in Richtung der alten Tunnelachse. Wobei diese zweite Kurve nahezu einen 90° Winkel beschrieb.

Damit blieb man im sicheren Gestein und weit unter dem Gasterntal. Die Einbruchstelle wurde 1656 Meter weiter östlich passiert. Dadurch stieg das Gelände über dem Tunnel an und die Strecke sollte im festen Fels verlaufen. Die berechnete Überdeckung konnte auf rund 300 bis 400 Meter erhöht werden und damit war man sicher. Beim Gestein erwartete man jedoch grosse Abschnitte mit Schiefer unterschiedlicher Schichtung.

Im südlichen Richtstollen wurde der Punkt bestimmt, wo man in Richtung Osten abdrehen musste. Dabei war beim neuen Kilometer 10.5 eine Kurve mit einem Radius von 1100 Meter vorgesehen. Das war ungefähr dort, wo man sich bereits befand. Danach befanden sich die Mineure wieder auf dem direkten Kollisionskurs. So sollten sich die beiden Richtstollen im Berg doch noch finden und der Tunnel könnte doch noch fertig gebaut werden.

So einfach, wie es sich jetzt darstellt, war die Berechnung jedoch nicht, denn es musste nicht nur die Achse, sondern die korrekten Geschwindigkeiten beim Vortrieb berechnet werden. Ein neuer Punkt, der benötigt wurde. Schliesslich befand man sich nicht mehr auf einer geraden Linie, sondern in einem diagonal verlaufenden System. Nur kleinste Abweichungen konnten deutlich grössere Auswirkungen auf den Treffpunkt haben.

Um die Berechnung zu vereinfachen, wurde der Durchstich exakt in der neuen Tunnelmitte als Anhaltspunkt genommen. Daher war es wichtig, dass sich die beiden Richtstollen dieser Mitte so genau wie nur möglich nähern sollten. Hier muss erwähnt werden, dass diese Lösung immer angestrebt wurde. Wenn man die Abweichungen bei den anderen Tunneln auf diese Mitte zurückrechnen würde, hätte es auch bei diesen keine Abweichung ergeben.

Beim Simplontunnel war dieser Treffpunkt sogar vertraglich vereinbart worden. Als sich der nördliche Stollen jedoch dort befand, war die südliche Seite wegen den grossen Problemen noch lange nicht dort. Statt zu warten, wurde daher weiter gearbeitet. Jetzt sogar im Gefälle! Das ging letztlich so lange, bis der erste Wassereinbruch den Stollen mit Wasser füllte und man dieses kaum aus dem Tunnel brachte.

Je weiter von der Mitte entfernt der Treffpunkt letztlich lag, desto grösser sollte die Abweichung von den berechneten Massen sein. Es war daher eine meisterhafte Berechnung dieses ungewöhnlichen Umweges nötig geworden. Wohl verstanden, man konnte damals nur mit Theodoliten und Visierstäben arbeiten und hatte noch keine Positionsortung, wie es sie heute beim Bau von ähnlichen Tunneln gibt. Doch zuerst mussten sie sich im Berg überhaupt finden.

Der Vortrieb verlief jetzt ohne weitere Probleme und man erreichte auch jetzt wieder die üblichen Leistungen. Es war daher ein normaler Bau geworden, auch wenn es jetzt ein paar Ecken im Tunnel haben sollte.

Diese sollten sich im späteren Betrieb nicht gross aus-wirken, denn wegen dem Profil und dem Abstand der Geleise konnte die maximale Geschwindigkeit nicht auf mehr als 125 km/h gesteigert werden. Die Radien der neuen Umfahrung reichten auch für diese Geschwindigkeit.

Am 15. März 1911 hatten die Mineure von der Bauleitung die Weisung erhalten, die Stollenbrust nur noch behutsam zu sprengen. Den Berechnungen zu Folge waren die beiden Stollen nur noch 100 Meter voneinander entfernt.

Damit wollte man einen Unfall verhindern, denn man hatte schon genug schwere Unfälle gehabt und daher sollte verhindert werden, dass sich die Mineure die Steine gegenseitig um die Ohren knallten.

Bereits am 25. März des gleichen Jahres waren die Sprengungen des anderen Richtstollens zu hören. Von diesem Moment an waren die Mineure nicht mehr zu halten. Das Ziel war auf beiden Seiten zu hören und daher arbeitete man mit besonders grossem Eifer an der Stollenbrust. In Zukunft, sollten jedoch die anderen Sprengungen nicht mehr zu hören sein. Denn ab nun wurde zur gleichen Zeit gesprengt.

Mit Hilfe einer Telefonverbindung wurden somit die Sprengungen auf beiden Seiten gleichzeitig ausgeführt. Bereits drei Tage später waren die ersten Morsezeichen von der anderen Seite zu hören. Man konnte sich nun auch mit Klopfen auf dem direkten Weg verständigen. Es mussten wirklich nur noch wenige Meter zwischen den beiden Stollen sein. Nach jeder Sprengung erwartete man das Loch, das man so sehnsüchtig erwartete.

Am 31. März 1911 war es um zwei Uhr morgens endlich soweit. Ein Bohrhammer der südlichen Seite drehte plötzlich leer durch, da das bis dahin noch nie passiert war, schrien die Mineure auf beiden Seiten "Traforo .... Traforo!"

Der Lötschbergtunnel war durchbohrt worden. Sicher war man sich auf der Nordseite, denn dort sah man natürlich den Bohrer, der sich in der Luft frei drehte. Als er zurückgezogen wurde, sah man sich durch das kleine Loch.

Aber es standen immer noch 80 cm Gestein zwischen den beiden Richtstollen. Mit einer letzten Sprengung sollte schliesslich die letzte Wand im Lötschbergtunnel fallen und das Ziel erreicht werden.

Dazu mussten noch die weiteren Löcher gebohrt werden. Anschliessend wurde der Sprengstoff eingebracht und damit die letzte Sprengung vorbereitet. Dazu wurde aber etwas mehr Zeit benötigt, als sonst üblich, da man besondere Vorsicht walten liess.

Da die Südseite die Ehre hatte, die Stollenbrust zu durchbohren, sollte nun der Nordseite die Ehre zustehen, die letzte Sprengung zu zünden. Um 3 Uhr 50 wurde dann die letzte erlösende Sprengung gezündet. Erneut knalle es und die Lampen der Mineure erloschen. Der nach der Explosion auftretende starke Luftstrom, der den Rauch schnell abziehen liess, war das Zeichen, dass der Lötschbergtunnel ganz durchbohrt war.

Der dritte grosse Durchstich in den Schweizer Alpen war Tatsache geworden. Daher war eine grosse Erleichterung zu spüren. Die beiden Ingenieure Moreau (Südseite) und Rothpletz (Nordseite) konnten sich, nachdem sich der letzte Staub verzogen hatte und das Loch genug vergrössert wurde, die Hände im neusten Tunnel der Schweiz reichen. Ein schönes Bild, das vom Lötschberg in die Welt getragen werden konnte.

Jedoch war die Rückmeldung der internationalen Presse eher verhalten, nach dem Gotthard war das Interesse deutlich geschwunden, denn jetzt wurden die Erfolge beim Tunnelbau erwartet. Trotzdem es war ein riesiger Erfolg.

Wegen der Umfahrung war die erbrachte Leistung deutlich höher, als jene am Gotthard und am Simplon. Ein Umstand, dessen man sich in der Schweiz und in Frankreich bewusst war. Dort waren auch die grossen Titel zu finden.

Der Durchschlag des Lötschbergs erfolgte in der Längsachse beim Km 7.3672 mit einer Abweichung von der Tunnelmitte von 41 Meter. Die Achsen der beiden Richtstollen weichten an der Stelle um 102 mm in der Höhe und um 192 mm in der Breite ab.

Die Scheitelhöhe des Tunnels wurde mit 1 239.54 Meter über Meer ange-geben. Damit war der Lötschbergtunnel höher als der Gotthard gelegen, was jedoch auch von den Portalen her zu erwarten war.

Es zeigt sich, wie genau die Ingenieure gerechnet haben, denn die Abweichung bewegt sich in beiden Fällen innerhalb der vorgegebenen Toleranzen. Hätten sie sich exakt in der Mitte getroffen, hätte es gar keine Abweichung gegeben. Die erbrachte Leistung bei der Vermessung und der Berechnung müssen jedoch wegen den zusätzlichen Kurven viel höher gewichtet werden, als bei den anderen vergleichbaren Bauwerken.

Am 1. April 1911 ruhten die Arbeiten und es wurde in Goppenstein und Kandersteg durch die Arbeiter gefeiert. Die offizielle Feier fand jedoch erst am 14. Mai des gleichen Jahres in Kandersteg statt. An der offiziellen Feierlichkeit waren neben dem Bundesrat auch die Berner Kantonsregierung und das Diplomatenkorps Frankreichs anwesend. Die Kader der BLS und der Bauausführenden EGL fehlten natürlich auch nicht. Selbst die Presse berichtete nun von der Feier.

Trotz der Festlichkeiten, war der Lötschbergtunnel noch lange nicht fertig gestellt. Die Ausbrucharbeiten waren erst am 31. März 1912 fertig. Somit ganz genau ein Jahr nach dem Durchstich. Die grosse Verzögerung war eine Folge davon, dass man wegen dem ausstehenden Entscheid des Ausbaus zu spät mit den Arbeiten in diesem Bereich beginnen konnte. Trotzdem sollte der Lötschbergtunnel fristgerecht fertig gestellt werden.

Die meisten Arbeiter wurden danach auf andere Baustellen abgezogen. So wurden die Mineure anschliessend auch beim Bau des Mont-d'Or-Tunnel und des weiter nördlich ebenfalls von der BLS gebauten Grenchenberg-Durchstichs eingesetzt. Im Scheiteltunnel des Lötschbergs kamen nun jene Leute zum Einsatz, denen es oblag, die Bahntechnik einzubauen und diese war hier deutlich umfangreicher, als seinerzeit beim Gotthardtunnel.

 

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